Die junge Samia will die schnellste Frau der Welt werden. Doch in Somalia herrschen Repression und Bürgerkrieg
Da steckt Herzblut drin. Das merkt man dem Film von Yasemin Şamdereli, den sie zusammen mit Deka Mohamed Osman realisierte, an. Mit dem publikumswirksamen Kinodebüt Almanya – Willkommen in Deutschland gelang ihr 2011 der Durchbruch. Erst sechs Jahre später stellte sie ihren ersten Dokumentarfilm Die Nacht der Nächte fertig. 2020 realisierte sie den TV-Film »Barfuß durch Australien«, der allerdings erst 2023 unter einem Pseudonym ausgestrahlt wurde. Für ihren neuen Spielfilm Samia musste sich Şamdereli lange abstrampeln. »Seit acht Jahren ist 'Samia' mein absolutes Herzensprojekt«, schreibt sie.
Als Samia (Riyan Roble) einmal entdeckt hat, dass sie super rennen kann, hält sie nichts mehr davon ab. Täglich läuft die Neunjährige mit ihrem besten Freund und Nachbar Alin (Zakaria Mohammed) um die Wette zur Schule. Weil sie dabei zu seinem Ärger immer gewinnt, gibt Ali auf und wird ihr Trainer. Doch ihre Mutter Ayaan (Fathia Mohamed Absie) lehnt das viele Trainieren ab, weil sie um das Wohlergeben von Samia fürchtet. Schließlich dürfen Frauen unter der Herrschaft der Islamisten im Bürgerkriegsland Somalia keinen Sport mehr treiben. Dagegen findet das Mädchen in ihrem Vater Yusuf (Fatah Ghedi) einen Mentor, der ihr richtige Laufschuhe verspricht, wenn sie den Stadtlauf gewinnt. Samia lässt sich nicht stoppen und trainiert heimlich nachts mit Ali und später mit ihrem älteren Bruder Said (Mohamed Abdullahi Omar) im leeren Fußballstadion.
Mit 17 Jahren wird Samia (Ilham Mohamed Osman) dank ihrer Leistungen vom Olympischen Komitee ihres Landes ausgewählt, an den Olympischen Spielen in Peking teilzunehmen. Dort kommt sie zwar als Letzte ins Ziel, begeistert aber das Publikum und ihre Angehörigen zu Hause. Weil die Teenagerin angesichts der zunehmenden Unterdrückung in Somalia für sich keine Zukunft als Sportlerin sieht, beschließt sie, wie ihre ältere Schwester Hodan (Amina Mohamed Ahmed) mit Hilfe von Schleppern nach Europa zu fliehen. Ihr großes Ziel sind die Olympischen Spiele in London. Doch ihr Fluchtweg führt direkt in ein fürchterliches Gefängnis in Libyen.
Der Filmstoff beruht auf dem Roman »Sag nicht, dass du Angst hast« von Giuseppe Catozella, der wiederum auf dem realen Fall der Somalierin Samia Yusuf Omar basiert. 1991 in ärmlichen Verhältnissen in Mogadischu geboren, tat sie sich schon als Kind als Läuferin hervor und nahm als 17-Jährige 2008 als einzige somalische Athletin an den Olympischen Spielen in Peking teil. Nach Repressalien und Todesdrohungen in ihrer Heimat versuchte sie über das Mittelmeer nach Italien zu fliehen, ertrank jedoch mit 21 Jahren bei Malta.
Der biographische Heldinnenfilm, der beim Filmfest München 2024 den internationalen Publikumspreis gewann, erzählt den tragischen Fall nicht chronologisch, sondern auf mehreren Zeitebenen. Den Löwenanteil der Erzählzeit nimmt Samias Kindheit ein, doch immer wieder wechselt die Montage zu ihren schmerzhaften Erlebnissen als junge Frau in der Wüste, in Libyen und auf See. Am Anfang und am Ende sehen wir zudem dokumentarische wie nachgestellte Aufnahmen vom Lauf-Wettbewerb in Peking.
Die dynamische Inszenierung erzeugt ein reizvolles Spannungsfeld zwischen dem Optimismus und der familiären Geborgenheit Samias einerseits und der zunehmenden Intoleranz und Unterdrückung in einer islamistischen Diktatur andererseits. Als Kind und mehr noch als Teenager bekommt Samia mit, dass radikalislamische Milizionäre auf den Straßen Angst verbreiten, dass Frauen und Mädchen stets den Hijab tragen müssen, dass sie in der Öffentlichkeit keinen Sport ausüben dürfen, ja dass sogar das Musikhören im Radio auf den Straßen verboten wird.
Sowohl Riyan Roble als kindliche Samia als auch Ilham Mohamed Osman als jugendliche Samia bringen mühelos die Naivität und Natürlichkeit einer Heranwachsenden auf die Leinwand, die im Sport ihre Erfüllung gefunden hat und sich auch von Widerständen und Drohungen nicht davon abhalten lässt. Die Kamera von Florian Berutti bleibt stets nah an dem Mädchen mit dem unbändigen Bewegungsdrang, das mit Einfallsreichtum und List lästige Restriktionen umgeht, um doch noch trainieren zu können.
Ebenso präzise wie unaufdringlich zeigt der Film, wie der gesellschaftliche Druck unter Bürgerkriegsbedingungen wächst, bis Samia es nicht mehr aushält und sich für die Flucht entscheidet. Einige drastische Szenen in der Sahara und im libyschen Gefängnis erinnern an die Schrecken, die Matteo Garrone in seinem Migrationsdrama Io Capitano geschildert hat. Dass die Filmemacherinnen gelegentlich ins allzu Sentimentale abdriften, etwa wenn der Geist des ermordeten Vaters Samia in der Wüste erscheint, lässt sich verschmerzen angesichts der Stringenz, mit der hier gezeigt wird, warum verzweifelte Menschen die lebensgefährliche Flucht nach Europa als letzte Chance auf ein lebenswertes Leben ergreifen. Und angesichts der Tatsache, dass die europäische Flüchtlingspolitik jeden Tag aufs Neue scheitert.
Reinhard Kleber
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