Wenn Laufen zum Überleben notwendig wird (2024)

Die junge Samia will die schnellste Frau der Welt werden. Doch in Somalia herrschen Repression und Bürgerkrieg

Da steckt Herzblut drin. Das merkt man dem Film von Yasemin Şamdereli, den sie zusammen mit Deka Mohamed Osman reali­sierte, an. Mit dem publi­kums­wirk­samen Kinodebüt Almanya – Will­kommen in Deutsch­land gelang ihr 2011 der Durch­bruch. Erst sechs Jahre später stellte sie ihren ersten Doku­men­tar­film Die Nacht der Nächte fertig. 2020 reali­sierte sie den TV-Film »Barfuß durch Austra­lien«, der aller­dings erst 2023 unter einem Pseudonym ausge­strahlt wurde. Für ihren neuen Spielfilm Samia musste sich Şamdereli lange abstram­peln. »Seit acht Jahren ist 'Samia' mein absolutes Herzens­pro­jekt«, schreibt sie.

Als Samia (Riyan Roble) einmal entdeckt hat, dass sie super rennen kann, hält sie nichts mehr davon ab. Täglich läuft die Neun­jäh­rige mit ihrem besten Freund und Nachbar Alin (Zakaria Mohammed) um die Wette zur Schule. Weil sie dabei zu seinem Ärger immer gewinnt, gibt Ali auf und wird ihr Trainer. Doch ihre Mutter Ayaan (Fathia Mohamed Absie) lehnt das viele Trai­nieren ab, weil sie um das Wohl­ergeben von Samia fürchtet. Schließ­lich dürfen Frauen unter der Herr­schaft der Isla­misten im Bürger­kriegs­land Somalia keinen Sport mehr treiben. Dagegen findet das Mädchen in ihrem Vater Yusuf (Fatah Ghedi) einen Mentor, der ihr richtige Lauf­schuhe verspricht, wenn sie den Stadtlauf gewinnt. Samia lässt sich nicht stoppen und trainiert heimlich nachts mit Ali und später mit ihrem älteren Bruder Said (Mohamed Abdullahi Omar) im leeren Fußball­sta­dion.

Mit 17 Jahren wird Samia (Ilham Mohamed Osman) dank ihrer Leis­tungen vom Olym­pi­schen Komitee ihres Landes ausge­wählt, an den Olym­pi­schen Spielen in Peking teil­zu­nehmen. Dort kommt sie zwar als Letzte ins Ziel, begeis­tert aber das Publikum und ihre Angehö­rigen zu Hause. Weil die Teen­agerin ange­sichts der zuneh­menden Unter­drü­ckung in Somalia für sich keine Zukunft als Sport­lerin sieht, beschließt sie, wie ihre ältere Schwester Hodan (Amina Mohamed Ahmed) mit Hilfe von Schlep­pern nach Europa zu fliehen. Ihr großes Ziel sind die Olym­pi­schen Spiele in London. Doch ihr Fluchtweg führt direkt in ein fürch­ter­li­ches Gefängnis in Libyen.

Der Filmstoff beruht auf dem Roman »Sag nicht, dass du Angst hast« von Giuseppe Catozella, der wiederum auf dem realen Fall der Soma­lierin Samia Yusuf Omar basiert. 1991 in ärmlichen Verhält­nissen in Moga­di­schu geboren, tat sie sich schon als Kind als Läuferin hervor und nahm als 17-Jährige 2008 als einzige soma­li­sche Athletin an den Olym­pi­schen Spielen in Peking teil. Nach Repres­sa­lien und Todes­dro­hungen in ihrer Heimat versuchte sie über das Mittel­meer nach Italien zu fliehen, ertrank jedoch mit 21 Jahren bei Malta.

Der biogra­phi­sche Heldin­nen­film, der beim Filmfest München 2024 den inter­na­tio­nalen Publi­kums­preis gewann, erzählt den tragi­schen Fall nicht chro­no­lo­gisch, sondern auf mehreren Zeit­ebenen. Den Löwen­an­teil der Erzähl­zeit nimmt Samias Kindheit ein, doch immer wieder wechselt die Montage zu ihren schmerz­haften Erleb­nissen als junge Frau in der Wüste, in Libyen und auf See. Am Anfang und am Ende sehen wir zudem doku­men­ta­ri­sche wie nach­ge­stellte Aufnahmen vom Lauf-Wett­be­werb in Peking.

Die dyna­mi­sche Insze­nie­rung erzeugt ein reiz­volles Span­nungs­feld zwischen dem Opti­mismus und der fami­liären Gebor­gen­heit Samias einer­seits und der zuneh­menden Into­le­ranz und Unter­drü­ckung in einer isla­mis­ti­schen Diktatur ande­rer­seits. Als Kind und mehr noch als Teenager bekommt Samia mit, dass radi­kal­is­la­mi­sche Mili­zionäre auf den Straßen Angst verbreiten, dass Frauen und Mädchen stets den Hijab tragen müssen, dass sie in der Öffent­lich­keit keinen Sport ausüben dürfen, ja dass sogar das Musik­hören im Radio auf den Straßen verboten wird.

Sowohl Riyan Roble als kindliche Samia als auch Ilham Mohamed Osman als jugend­liche Samia bringen mühelos die Naivität und Natür­lich­keit einer Heran­wach­senden auf die Leinwand, die im Sport ihre Erfüllung gefunden hat und sich auch von Wider­s­tänden und Drohungen nicht davon abhalten lässt. Die Kamera von Florian Berutti bleibt stets nah an dem Mädchen mit dem unbän­digen Bewe­gungs­drang, das mit Einfalls­reichtum und List lästige Restrik­tionen umgeht, um doch noch trai­nieren zu können.

Ebenso präzise wie unauf­dring­lich zeigt der Film, wie der gesell­schaft­liche Druck unter Bürger­kriegs­be­din­gungen wächst, bis Samia es nicht mehr aushält und sich für die Flucht entscheidet. Einige dras­ti­sche Szenen in der Sahara und im libyschen Gefängnis erinnern an die Schrecken, die Matteo Garrone in seinem Migra­ti­ons­drama Io Capitano geschil­dert hat. Dass die Filme­ma­che­rinnen gele­gent­lich ins allzu Senti­men­tale abdriften, etwa wenn der Geist des ermor­deten Vaters Samia in der Wüste erscheint, lässt sich verschmerzen ange­sichts der Stringenz, mit der hier gezeigt wird, warum verzwei­felte Menschen die lebens­ge­fähr­liche Flucht nach Europa als letzte Chance auf ein lebens­wertes Leben ergreifen. Und ange­sichts der Tatsache, dass die europäi­sche Flücht­lings­po­litik jeden Tag aufs Neue scheitert.

Reinhard Kleber

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